Aldo Kliman:
DIE SPRACHE ALS MASS DER WELT
(“Flaum schneller Wolken”)


    Boris Biletiæ ist eine komplexe und nicht alltägliche poetische Persönlichkeit. Seine Dichtung ist es ebenfalls. Diese Verwandtschaft des Außergewöhnlichen des Dichters und seines Werkes betont auch ihr Platz in der neueren kroatischen Poesie, zu der er Anfang der 80-er Jahre stieß. Das was vor nicht allzu langer Zeit, aber in dieser Periode wuchs, im besten Sinne des Wortes, angelehnt an die Erfahrungen der modernen europäischen Dichtung, ein ausgezeichneter Autor heran, dessen Werk nicht nur von hohem Niveau der literarischen und sprachlichen Kultur ein Zeugnis ablegt, sondern auch zweifellos ein Autor von bezeichnendem Talent und der Stärke angewendeter künstlerischer Kriterien.
        Biletiæ gehört dem istrischen literarischen Kreis an, doch das ist nur eine räumliche Zuordnung, fast irrelevant vom Aspekt der Bedeutung dieses Autors und seiner wirklichen Zugehörigkeit in einem breiteren kulturellen Kontext, aus dem er stammt und zu dem er jetzt als fertiger Dichter zurück kehrt. Es stimmt, er ist ein Vertreter der Generation, die Mitte der 80-er Jahre definitiv den quantitativen Verzicht auf jene starke dichterische Welle bezeichnen wird, die seit Anfang der 70-er Jahre bis heute die damaligen jugoslawischen Literaturen überschwemmte, der aber in diesem verlängerten allmählichen Hinzukommen seine ganze Authentizität und seinen kreativen Reichtum bestätigte. Heute ist natürlich vieles klarer geworden: diese zwanzigjährige Periode blieb bei uns ohne poetische Schule, die Strömungen aber waren lebendig und bezeichnend; es gab keine charismatischen poetischen Namen, aber es gab sehr viele gute Dichter. Im quantitativen Sinne war das vielleicht die reichste nachkriegszeitliche dichterische Periode, die gerade deswegen, da sie reich an Strömungen und Tendenzen war, im gleichen Maße das Leserpublikum und die Literaturkritik, aber auch die Dichter selbst, ihre Autorenkonzepte und Überzeugungen, auf die Probe stellte. Es zeigte sich, dass sehr viele Versuche in eine Sackgasse der der quasi Avantgarde irre gingen, jene Avantgarde, die sich auf den Glanz der Politur, aufs Exzentrische und auf die schnelle zur Schaustellung beim Publikum stützte. Das ist ein Teil des allgemeinen dichterischen Schicksals. Mode und Modernität stehen immer im Widerspruch in der ständigen und ewigen Meinungsverschiedenheit. Dieser Parallelismus und das Auseinandergehen bestätigt auch die Dichtung der siebziger und achtziger Jahre, so dass auf der anderen Seite ganz verständlich jene andere Dichtung stand, die sich an die subtilste, aber gleichzeitig die widerstandsfähigsten poetischen Fäden hält, die gleichmäßig von ursprünglichem Streben nach Freiheit und Schönheit der Form gleichmäßig geflochten und instand gehalten werden und die fast utopische Suche nach irgendeinem Loch im unübersichtlichen metaphysischen Eis, um einmal definitiv und wirklich wie ein Seehund in die Tiefen des Unbekannten und nicht Erkennbaren hinein zu gleiten und einzutauchen. Allerdings, falls das Unbekannte und Unerkennbare nicht nur als Synonyme für das Jenseitige verstanden werden. Denn die Verrücktheit und die Verrenkung der modernen Zivilisation hat auch die ganze Phantasmagorie und Metaphysik der diesseitigen Welt gezeigt, die auf ihre charakteristische Weise nur die Kunst in ihrem dauerhaften Betasten und Hinhören dekodiert .
        Auf dieser Spur hat ganz gewiss auch Boris Biletiæ seine zwei metaphysischen Kreise gezeichnet, die sich konzentrisch aus dem eigenen poetischen Kern zu den Weiten der Vorahnungen des Dauerhaften und Unerkennbaren erweitert.
       Ein engerer Kreis eröffnet uns in seiner wellenartigen Öffnung das zusammengesetzte Innere von Biletiæ’s poetischem Wesen, während der zweite, so scheint es, für den Dichter das wahre Maß der Welt bedeutet. Das ist die Sprache, das alles beinhaltende Labyrinth des Seins, Fosil und das Lebende des Urseins, Fosil und das Lebende des Geistes.
       Biletiæ ist mit seiner Sensibilität einigen früheren dichterischen Epochen und Schulen wesentlich näher als den zeitgenössischen Tendenzen und Versuchen und bringt uns mit seiner jugendlichen Sammlung, Zublja šutnje (Fackel des Schweigens), einige Kapitel zurück, bis zum Expressionismus, geleitet vor der subtilen Dichtung Trakls, die ohne Zweifel durchaus für Dichter der dunklen Seite der Welt, der Dichter der Melancholie und Einsamkeit, anregend ist. Wir sprechen also von einer Anregung und nicht von einem Einfluss, der jedoch etwas augenscheinlicher im folgenden Buch von Biletiæ, in Primorski nokturno (Meeresnokturno).
       Zublja šutnje (Fackel des Schweigens) ist eigentlich das Abbild der inneren Unruhe des Autors, die sich durch die Echos einer verwandten Seele beruhigt. Dieses Werk ist äußerst persönlich, und als Erfahrung für Biletiæ fast entscheidend. Mit seinen frühen Versen hat er sein eigenes authentisches dichterisches Timbre gefunden, aber er hat, so scheint es, erkannt, dass man Hals über Kopf vor zwei für die Poesie vernichtenden Extremen davonlaufen sollte: vor der elementaren Spontaneität und vor gefühlsmäßigen Fälschungen. Sowohl dem einen als auch dem anderen Extrem neigen viele Gedichte in diesem Buch zu, das schon einen ziemlich pathetischen Titel hat. Es wird aber zum Glück von einer Fülle schöner Verse überschwemmt, wie auch einiger Gedichte von anthologischem Wert, aus dem bald alle jene eigentümlichen Verse von Biletiæ auskeimen und hervorsprießen, von denen es heute wenige in unserer Dichtung gibt. Zublja šutnje (Fackel des Schweigens) ist ein nicht zu Ende gesagtes dichterisches Rätsel, aber es ist doch ein Rätsel. Diese Dichtung ist eine Vorhalle des zusammengesetzten poetischen Labyrinths, das sich vom Primorski nokturno (Meeresnokturno) bis zum Pjena brzih oblaka (Flaum schneller Wolken) und zu späteren Versen von Biletiæ durchzieht, ein Labyrinth, das auf eine erstaunliche Weise von umherirrenden und geheimnisvollen Umrissen einer dunklen Welt und verführerischen Wegen der Sprache, den Worten, umgeben wird. Schon das Syntagma „Fackel des Schweigens“ ist eigentlich antithetisch. Denn die Fackel ist die Sprache die beleuchtet, die das Schweigen des Geheimen, Dunklen, Inneren, Unerkenntlichen öffnet. Die Fackel des Schweigens des Dichters spiegelt sich im dunklen Spiegel der Seele wider, in deren Ecken im Halbdunkel wir symbolische Formen und Zeichen erkennen, die nach Klarheit streben. „Tengono a la chiarità le cose oscure“, sagt Montale. Wahrlich, auch die Poesie kann sich diesem ursprünglichen Antrieb nicht entziehen. Für die moderne Dichtung ist, so scheint es, gerade das entscheidend, in welchem Maße dieses Streben gezügelt, in welchem Maße ihre Spannung und Intensität erhalten und dabei die Kommunikation aufgehoben wird.
       Aus diesem Winkel betrachtet können wir frei feststellen, dass sich die poetische Dekodierung der eigenen Welten bei Biletiæ mit einer betonten Zurückhaltung abspielt. Dieser Prozess macht auch die Komplexität der Erlebnissen zusammengesetzter, in die sich wie silberne Fäden ein Vielzahl von Assoziationen literarischer, historischer oder mythologischer Herkunft verflechten. Biletiæ ist ein Dichter – Erodit, der von den ziemlich verschwommenen Assoziationen im ersten Buch zur poetischen Quintessenz gelangt ist. Das schließt die äußerste Kondensation der Verse ein, aber auch eine immer betontere Vervielfältigung des Sinnes und der Bedeutung. So muß auch ihr Verständnis sein.
       Als außergewöhnlicher Lyriker seinem Wesen nach geht Biletiæ auch in den zärtlichsten und zephyrhaftesten Versen auf der dunklen beschatteten Seite. Die Brise des schwarzen und mystischen Erlebnisses überschwemmt die Verse mit einem leichten Schauer der Erkenntnis über das befreite Böse. Pandoras Büchse ist auch weiterhin geöffnet. Der Schrein, die Truhe aus Ebenholz, die Büchse – besondere Symbole der Hoffnung aber auch der Dunkelheit, des Zweifels und der Angst – öffnet sich hier und da in Biletiæ’s Poesie gerade so weit, um mit dem Glanz eines vergessenen winzigen Juwels die Hoffnung aus der Tiefe hervorzurufen. Wenn das heute nicht übertrieben wäre, könnten wir sagen, dass nach dem urteilend, was aus Biletiæ’s Poesie leuchtet, er ein verwunschener Dichter sei. Er ist es gewiss nicht im Sinne Baudelaires oder Rimbauds, aber sicher in seinem eigenen Sinne. Die Verrücktheit der Welt, die Abwesenheit von Harmonie und Ausgeglichenheit, der Verlust der Proportionen und die Umkehrung der Perspektive, die sich in der Weite ausbreitet und ins Nichts verliert – verurteilt den Dichter zu Einsamkeit und Einsiedelei. In der Sammlung Primorski nokturno (Meeresnokturno) steht an einer Stelle:

Svakog jutra obredno
usmrtim se temeljito
pogledom u zrcalo
i hobotnici slièan
krakove i ticala
spuštam meðu ljude
èije sluzave oèi
površno èitaju moju
varljivu prazninu
izvan sebe a potpun
kao cvijet u polju
zadnji sklopim latice
i u se primam noæ
koju suncokreti neæe



(„Status praesens“)

* * *

Jeden Morgen töte ich mich
Rituell gründlich
Mit dem Blick in den Spiegel
Und dem Oktopus ähnlich
Lasse ich die Arme und die Fühler
Unter die Menschen
Deren schleimige Augen
Oberflächlich meine
Betrügerische Leere lesen
Aus mir heraus und vollständig
Wie eine Blume im Feld
Schließe ich die Blütenblätter
Und nehme die Nacht in mir auf
Die die Sonnenblumen nicht mögen

("Status praesens")

(übersetzt aus dem Kroatischen ins Deutsche von Marieta Djakoviæ)


       Die Poesie von Biletiæ ist auch eine lange unterbrochene Einsiedelei der Infragestellung und des Infragestellens; eine Einsiedelei, die zum Paroxysmus käme, wenn er sich nicht im luftigen Raum der Sprache befreite. So holen sich diese konzentrischen Kreise, über die wir gesprochen haben, langsam ein und berühren sich. Seine Sprache aus früheren Versen, kalt ... wie das Metall der Hellebarde, eisig wie ihre ganze Schneide – wenn wir den Dichter paraphrasieren – wird immer mehr an Wärme und Intensität zunehmen, aber sie wird wie ein Nachahmer ihre ganze Undurchsichtigkeit ihrer Quelle – des Geistes und der Seele – behalten. Da gibt es jetzt keine Zufälligkeit mehr. Das Gedicht herrscht nicht über den Dichter sondern umgekehrt. Doch der Dichter ist nicht da um sie zu zügeln, sondern nur um sie zu zähmen. Dabei ist die Sprache entscheidend.
        Rufen wir kurz Montale herbei:

Wenn die Welt die Struktur der Sprache und die Sprache die Form des Verstandes hat,
ist der Verstand mit seiner Fülle und Leere fast nichts und gibt uns keine Sicherheit.

(übersetzt aus dem Kroatischen ins Deutsche von Marieta Djakoviæ)


       Diese Verszeilen aus dem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel („Form der Welt“/La forma del mondo), die eine Art Gegenstück zu einem anderen Gedicht Montales darstellen, das folgendermaßen beginnt: „Wenn Gott die Sprache ist...“ („Die Sprache Gottes“/La lingua di Dio) erklärt uns einigermaßen auch Biletiæ’s Beziehung zur Sprache als Maß der Welt. Das stimmt, für ihn ist es eine Beziehung zwischen Licht und Dunkel, gleichzeitig aber eine Beziehung, die den Sinnen ermöglicht auf irgend eine Art mit der Realität zu korrespondieren. Die Grammatik ergreift Besitz von der Welt. Sie ist Rahmen und Wesen. Sie ist die Möglichkeit dem Chaos zu einem Sinn zu verhelfen. Terminologisch aber auch semantisch beherrscht die Sprache der Grammatik hier immer mehr Biletiæ’s Verse: Die Muscheltaucher junger / Perlmuscheln / leben kurz wie / Phoneme, und schneiden mit dem Körper / das Syntagma / des schweren und dichten / Wassers...“ (Muscheltaucher); „Das Bellen ist eine Stilfigur bis zur Sonne“ (Vedute des Platzes); „... Truhe des Dunklen / vom Fenster geworfen / in den Text des Sprechers“ (Lektira/Lektüre, Zavjetni kovèeg/Votivtruhe); „Hinter der Geschichte / lacht immer kastilisch / das Fosil der Bedeutung“ (Isabella); „Sprache bleibt in der Wurzel / im letzten Wort / des Heeresführers“ (Veslaèi/Ruderer); „Jenseits des Briefes / Seance“ (Anatomija, anatom i ja/Anatomie, der Anatom und ich); „Im Schnee schreie ich / sprachbildend“ (Dublin); „Bis zur Grenze / Omen und Zeichen“ (Orao/Adler); „Der Wind führt die Vokale spazieren“ (U crnom/Im Schwarzen); „Mahagoni / und die Muscheln leben / um falsche / Adjektive...“ „Aus der Syntax / eines schrecklichen Milleniums“ (Fotografije djetinstva / Fotografien der Kindheit); „... Buchstaben / wirbeln eine Wasserrose. / Semantische Wasserrose / saugen, schlürfen den Himmel“ (Brodimo/Mit dem Schiff reisen)... (ausgewählt von A.K.).
       Diese Konzentration von Biletiæ auf die Sprache als Struktur der Welt begünstigt immer mehr das Hermetisieren seiner Poesie, aber ein Hermetisieren, das nicht das durch sich selbst ist wegen seiner Exotik oder Überspanntheit des poetischen Inhalts, wie das beispielsweise bei Trakl geschieht. Hier geht es um etwas völlig anderes, die Sprache ist beherrschende Ordnung. Die Wörter im Gedicht aneinander zu reihen bedeutet eine Faszination zu schaffen. Im „technologischen Sinne“ ist es ein völlig entgegengesetztes Verfahren im Vergleich zu Trakl, bei dem die Faszination aus dem Strömen und dem gegenseitigen Ineinanderfließen und Überlaufen von fast alogischen Visionen und Träumen besteht. Im Primorski nokturno („Meeresnokturno“) singt der immer „wachere“ Biletiæ den Traum als eine Art poetischer Chiffre, doch dieses Singen ist nicht nur ein Abschreiben des Traumes. Neben all seiner Faszination bekommt er eine betonte Fülle, einen Sinn durch die Ordnung der Worte, die dem elementaren Sinn und der Bedeutung der freien und fast unwillkürlichen Visionen jetzt die Willkür betont und ihr neue Bedeutungen zuschreibt. Das Gedicht wird logisch, ohne überflüssige und unnotwendige Elemente. Es ist eine wahre Schöpfung, weil es nach dem Maße des Dichters gemacht wurde. Dieses Maß jedoch, wie das bei guten Dichtern ist, ist asketisch und anspruchsvoll. Das Gedicht unterdrückt jede Überflüssigkeit. Alle seine literarischen Konnotationen und Appelle verdichten sich zwischen den Zeilen oder in die Zeilen selbst bis zu einer äußerst prägnanten Polyvalenz. Das Gedicht scheint wieder undurchdringlich, aber es ist nur ein zusammengesetztes Labyrinth und nicht nur chaotisch hingeworfene sinntragende Weidenzweige.
       Doch wir sind auf eine Art in den terminologischen Raum der Kunst von Gottfried Benn gelangt. Nicht zufällig, denn Biletiæ musste, indem er seinen eigenen verworrenen dichterischen Weg mit den Spuren der besten Dichter kreuzte, auch zu Benn’s absolutem Gedicht gelangen. Aber sagen wir es gleich, wenn das absolute Gedicht, nachdem es Benn formulierte, zu einem ins Bewußtsein tretenden Ideal vieler zeitgenössischer Dichter wurde, war und blieb es doch eine außerzeitliche Kategorie. Die theoretische Formulierung konnte nicht auf das Erscheinen des Gedichts Einfluss nehmen. Das absolute Gedicht wurde auch früher auf verschiedene Weise gedeutet, aber es ging darum, dass es geschrieben wird. Benn hat es genannt, aber er hat es nie geschrieben, doch geschrieben haben es andere vor ihm. Denn der Schlüssel des Schreibens des absoluten Gedichts liegt augenscheinlich nicht nur im Bewußtsein, der kritischen Kontrolle und der Artistik – bedienen wir uns Benns Terminologie – sondern zweifellos auch in etwas völlig anderem, wovon er selbst in den „Problemen der Lyrik“ beiläufig sagte: „... Worte haben eine latente Existenz, die auf jene, die auf die entsprechende Weise beschaffen sind, wie ein Zauber wirkt und sie befähigt diesen Zauber weiter zu geben. Es scheint mir so, dass es das letzte Mysterium ist, vor dem unser armes, durchanalysiertes, nur durch zeitweiligen Rausch durchbrochenes Bewußtsein seine Grenzen fühlt“.
       Wir würden deswegen sagen, indem wir wieder zu Biletiæ’s Poesie zurückkehren, dass er, indem er die Sprache in den Mittelpunkt seiner poetischen Aufmerksamkeit setzt, die Kunstfertigkeit doch dem Zauber des Wortes unterwirft, sie aber doch nicht völlig abwirft. So bekommen wir eine Poesie, die die Gesetzlichkeit kennt, die Poesie, klangvoll und rein, aber frei in ihrem Schaffensprozess. Da stehen Ungaretti und Montale Biletiæ näher, also Dichter, deren Hermeneutik den poetischen Zauber nicht unterdrückt hat, im Gegenteil, sie hat ihr die Frische und den Rausch der mediterranen Brise gegeben.
       Die Sprache ist Gedächtnis. Deswegen kann dem Gedicht, auch wenn es im Sinne Benns gemacht wurde, die eigene Autonomie und das Unbezwingbare nicht genommen werden. Das sieht man an Biletiæ’s Beispiel besonders gut. Er ist sich der Rolle und Bedeutung der Faszination im poetischen Decodieren der Welt bewußt, er sucht nach Ordnung, aber nach der Ordnung in ihren tiefgreifenderen und älteren Wortschichten. Auf diese Weise ruft er parallele Welten auf, in deren gegenseitigem Verhältnis ein universelles Geheimnis verborgen liegt. Der Dichter beherrscht also die Form. Das absolute Gedicht ist die absolute Form, aber da die Sprache Gedächtnis ist – ist das Gedicht auch absoluter Inhalt, der jedoch immer und unaufhaltbar der Form entflieht, der Inhalt überschwemmt ihre Ränder. Denn die entsprechende Form der Sprache, also auch des Gedichts, ist nur ein fixierter Augenblick, während der Inhalt der Sprache eigentlich dauernd ist. Deswegen ist das Absolute des Gedichts nichts anderes als jener ungreifbare transzedentale Zauber, während der Dichter eine Art Medium ist. Das klingt wahrlich irgendwie spiritistisch, doch die Literaturgeschichte, aber auch die Kunstgeschichte, haben uns allgemein gelehrt – paraphrasieren wir hier Jovica Aæin – dass das Werk doch mehr als sein Autor wissen kann. Wenn es nicht so wäre, klänge auch Benns Ruf nach dem Süden überzeugender und wärmer, obwohl es wahrscheinlich nie jenen authentischen mittelmeerländischen Geist von Ungaretti und Montale erreichen würde, den wir oben erwähnten und die ihn nicht vortäuschen oder hervorrufen mussten. Als Benn das Gedicht über den Süden schrieb, machte er eine Formel, in der der Süden nur ein Wort geblieben ist, bei der sich die Bedeutung und die Form decken, aber aus der ihr wunderbarer bunter Inhalt nicht herausquillt. Benn war kein Medium für den Süden.
       Der Dichter, diese anachoretische Persönlichkeit Boris Biletiæ, hat gewiss die Eigenschaften des poetischen Mediums, Eigenschaften die er mit Könnerschaft benutzt. In seinen besten Gedichten erreicht er die gewünschte Identität des Dichters mit der Sprache, also der Seele und des Geistes, die Identität zweier seiner metaphysischen Kreise. Der Dichter in ihm hat das Gedicht eingeholt. So soll es auch sein. Nur darf er es nicht überholen.


(1990)


(Übersetzung: Marieta Djakoviæ)